Barfuß durch Ponarth
Über Jahrzehnte reiste Horst Glaß nur in Gedanken in seine Heimat. Inzwischen ist er viele
Male durch seinen Stadtteil in Königsberg geschlendert. Immer sind Erinnerungen an
die Jugendzeit dabei.
Nehmen wir an, dass ich mit dem
D-Zug aus Berlin auf dem Hauptbahnhof in Königsberg früh morgens, kurz
nach sieben Uhr, ankomme. Vom Bahnsteig gehe ich hinab in den
Fußgängertunnel, an dessen Ende ich dem Kontrolleur meine Fahrkarte
vorzeigen muss. Dann trete ich ein in die hohe Bahnhofshalle, in der
bereits ein geschäftiges Treiben herrscht. Die Läden haben bereits
geöffnet. Ich gehe hinaus auf den Bahnhofsvorplatz und schaue auf den
mächtigen Turm der Haberberger Kirche, dem Gotteshaus jener Gemeinde,
zu der Ponarth vor langer Zeit gehörte. Ich muss nicht lange warten,
bis die Straßenbahn der Linie 15 kommt und mich kurvenreich über den
Bahnhofsplatz in Richtung Ponarth fährt.
Der
Hauptbahnhof von Königsberg ist heute der Südbahnhof von
Kaliningrad. |
Wie oft bin ich auf diese Weise
in Gedanken nach Hause gefahren. Über Jahrzehnte haben meine Träume
mit Lichtgeschwindigkeit die Entfernung überwunden und mich nach
Ponarth zurückgeführt. Mit Kindern, Enkeln und Freunden habe ich über
die Heimat gesprochen, Erlebtes geschildert und dabei fast körperliche
Schmerzen verspürt. Inzwischen bin ich viele Male wieder im Königsberg
gewesen.
Heute heißt die Stadt
Kaliningrad, und die Straßenbahnlinie, die in den Stadtteil Ponarth
führt, in dem ich Kindheit und Jugend verbrachte, hat die Nummer 2
erhalten. Doch die Streckenführung ist dieselbe geblieben, wie vor
über sechs Jahrzehnten.
Gemächlich scheppernd fährt
heute die Straßenbahn über die alten Gleise vom Hauptbahnhof, der
heute Südbahnhof heißt, durch die Dirschauer Straße. Dabei passiert
sie das alte Straßenbahndepot, das als solches noch genutzt wird, und
fährt vorbei an der größtenteils erhalten gebliebenen
Wohnsiedlung für Stadt- und Straßenbahnbedienstete, die der Volksmund
einst "Sing Sing" getauft hatte.
Über die alte, mittlerweile
baufällige Brücke über den Königsberger Verschiebebahnhof rumpelt
die Bahn weiter die Ponarther Straße hinunter zur Haltestelle an der
Wiesenstraße. Nahe der Beek kommt sie an einer neuen Großtankstelle
vorbei. Mühsam bewältigt sie dann die Steigung zur Zellerstraße an
einem Hochhauskomplex entlang, wo sich früher der Pechteich befand. Im
Winter diente der Teich als Eislieferant für die Ponarther
Bierbrauerei. Die Endschleife der Straßenbahn am Beginn der
Brandenburger Straße ist geblieben. Für dieses Teilstück musste
bereits in den dreißiger Jahren die alte Schmiede von Albert Reh und
die Schusterei Weber weichen.
Das
ehemaliges Gasthaus Südpark im Zentrum von Ponarth ist heute
als Kulturhaus ein Ort der Begegnung . |
Endstation damals. Hier steige
ich aus und mache mich auf den Weg, beladen mit einem Rucksack voller
Erinnerungen. Überrascht stelle ich fest: Im Zentrum von Ponarth hat
sich wenig verändert. In dem Gebäude der Pestalozzischule werden nach
wie vor junge Menschen auf ihr weiteres Leben vorbereitet, in der
Lichtbildbühne laufen weiterhin unterhaltsame Kinofilme, und das
baulich etwas veränderte Gasthaus Südpark ist als Kulturhaus ein Ort
der Begegnung der neuen Ponarther. Unweit davon steht auch noch die 1897
erbaute Kirche, in der sich heute orthodoxe Gläubige zum Gebet treffen.
Ebenfalls erhalten geblieben, allerdings baulich umgestaltet und im
Sommer stark eingegrünt, ist die einstige Josefskapelle hinter der
Park-Friedrichsruh-Straße. Nicht mehr zu finden ist das ehemalige
Waisenhaus der grauen Schwestern.
Versonnen schlendere ich durch
die Brandenburger Straße. Erinnerungen steigen in mir hoch, an die
Zeit, als ich noch barfuß durch Ponarth lief. Alles war mir damals so
selbstverständlich, so unverwandelbar und einfach. Kinder, Jugendliche,
Eltern, Verwandtschaft und Freunde bildeten eine festgefügte
Gemeinschaft, jeder Einzelne hatte seine Rolle und seine Erwartung an
das Leben.
Vorbei gehe ich an den mir
vertrauten Gebäuden, etwa dem Haus von Dr. Glang, in dem heute ein
medizinisches Labor untergebracht ist, oder hinter der Bergstraße auf
der rechten Straßenseite dem Haus, in dem Ponarths Hebamme, Frau
Engelhardt, einst wohnte. Gegenüber steht noch das Heiduschatsche
Haus, in dem sich eine Fleischerei befand. In Höhe des ehemaligen
Gloria-Kinos steht heute die neue Markthalle Ponarths, aus der mir
fremdartige Gerüche entgegen schlagen. An dieser Stelle befanden sich
einst die Gaststätte von Herbert Budszus und das Blumengeschäft
Mähler. Abschluß der alten Bebauung bildet der fast unveränderte
Ponarther Bahnhof.
Auch hinter der Eisenbahnbrücke,
über die man einst von Berlin nach Königsberg kam, ist noch etwas vom
alten Ponarth lebendig. Etwa die Brauerei Schönbusch, oder das
Wohngebiet an der Godriener Straße und An den Birken. Allerdings fehlen
hier einige Häuser. In der Schule habe ich es gelernt und bis heute
nicht vergessen: Hier, in diesem westlichsten Teil Ponarths, Ecke
Godriener Straße / Berliner Straße, begrüßten einst die Einwohner
Ponarths den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., der auf dem
Wege in seine künftige Residenzstadt war, in der er sich 1701 zum
König in Preußen krönte.
Auf meinem Rückweg in das
Zentrum Ponarths verschwimmen vor meinem geistigen Auge immer wieder das
Gestern und Heute. In der Barbarastraße bis hin zur Karschauer Straße
reihen sich die alten Häuser nahezu unverändert aneinander. Gütig
verdecken die ausgewachsenen Bäume die lädierten Bauten und
bröckelnden Putz. In der Kaserne zwischen Dreysestraße und
Palvestraße sind heute russische Soldaten untergebracht. Der Palveplatz
ist heute keine Sportstätte mehr, sondern spärlich bebaut.
Von hier erreiche ich schnell die
Karschauer Straße. Heimatlich zeigt sich der Schwanenteich, mit seinen
beiden Inseln und den Schwänen, die wie einst majestätisch über das
Wasser geleiten. Auf meinem Weg zum Restaurant Südpark, vorbei an alten
und neuen Häusern, erkenne ich am Abzweig Palvestraße das Gebäude
hinter dem sich einst die ehemalige Gärtnerei Klemusch befand. Kurz
darauf bin ich wieder im Mittelpunkt von Königsbergs südlichsten
Stadtteil angelangt.
Nach der Westwanderung gehe ich
auf Spurensuche in Ponarths Osten. Gleich zu Beginn, in der
Speichersdorfer Straße gegenüber dem Gasthaus Südpark, komme ich
vorbei an den Eisenbahnerwohnblocks, die die Jahrzehnte nahezu unversehrt
überstanden haben. Unverkennbar ist auch das Gelände der Ponarther
Brauerei. Das schmackhafte Bier hat den Namen des Stadtteils weit über
Ostpreußens Grenzen hinaus bekannt gemacht. Heute produzieren junge
Geschäftsleute, mit russisch Business in den alten Fabrikgebäuden Kwas
und Limonade.
In
den ehemaligen Fabrikationsgebäuden der Ponarther Bierbrauerei
wird heute Kwas und Limonade produziert. |
Der Hubertusteich, einst wie der
Pechteich Eislieferant des Ponarther Bierproduzenten, ist merklich
geschrumpft. Auch hat der "Hubber", wie er früher genannt
wurde, seinen Stichkanal zu den Eislagerungskellern der Brauerei
verloren. Etwa in Höhe der ehemaligen Badeanstalt bis hin zum Schwanenteich
befindet sich heute der gewaltige Krankenhauskomplex des Kaliningrader
Gebiets.
Die Speichersdorfer Straße hat
sich in ihrer Straßenführung bis hin zur Aweider Allee nicht
verändert. Allerdings sind hier nur einige Einfamilienhäuser erhalten
geblieben. Vergangenheit sind das Geschäft des Kolonialwarenhändlers
Anhut und die Bäckerei Radau, ebenso wie gegenüber die Wirtschaft
Hübner und das Schuhgeschäft Czekay. Erst ab der Borsigstraße erkenne
ich das alte Ponarth wieder. Die Wohnhäuser in der Maybachstraße und
der Buddestraße stehen noch. Sogar der Eingang zum
Reichsbahn-Ausbesserungswerk (RAW) ist der Alte geblieben.
Südlich der Speichersdorfer
Straße, wo einst die Ponarther in ihren Schrebergärten ihr Gemüse
anbauten, ist ein neues Wohngebiet mit zahlreichen Hochhäusern
entstanden. Hier ist der Stadtteil beträchtlich gewachsen, hat aber
dennoch seine Struktur erhalten. Es gibt noch die Wolfstraße, den
Rehsteg, die Hirschgasse und den Elchdamm, der in Richtung Karschauer
Straße verlängert wurde. Auf meinem Weg zurück zum Hubber muss ich
jedoch feststellen, dass sich in der Jägerstraße vieles verändert
hat. Und auch die Walpurgisstraße bis hin zur Werkstätten- und
Wiesenstraße hat einen neuen Charakter erhalten.
Doch nach wie vor befindet sich
hier die Straßenbahnhaltestelle der Linie 15, nein, der Linie 2 in
Richtung Innenstadt. Es dauert nicht lange, bis sie von der
Zellerstraße naht, mich aufnimmt und über die alten ausgefahrenen
Gleise zurück zum Hauptbahnhof bringt.
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