Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 11. Tag

Samstag, 2. September 2006  -  Gedanken purzeln wie Dominosteine

Von Dobiegniew (Woldenberg) nach Czlopa (Schloppe) – 28 Kilometer zu Fuß – persönlicher Rekord!

Frühstück ohne Kaffee empfinde ich als Zwangsentzug. Mein Morgenschmaus besteht aus einem pappigen Käse-Brötchen, einem Joghurt und einem Rest Orangensaft. Gegen sieben Uhr breche ich auf. Bevor ich die Tür hinter mir schließe, schreibe ich schnell eine Notiz an meine Gastgeber und lege sie zu meinen alten Trekking-Schuhen: "Have problems with my feet, you can take my shoes, if you want."

Hotel "La Mirage" in Dobiegniew (Woldenberg): Scherben auf der Straße, stumme Zeugen des nächtlichen Streits unter Jugendlichen.

 

 

 

 

Den Schlüssel stecke ich, wie abgesprochen, innen ins Schloss. Vor dem "La Mirage" liegen Glasscherben, stumme Zeugen des nächtlichen Treibens. Vorsichtig tappe ich mit meinen neuen Sandalen hindurch. Nur keine Splitter in den Fuß treten.

Die Sonne scheint. Ich habe ein gutes Gefühl. Meine Füße tragen mich  in den neuen Schuhen schmerzfrei, und Kraft ist ausreichend vorhanden. Ich laufe weiter an der Hauptstraße. Samstags sind weniger Lkws unterwegs. In einem Imbiss trinke ich zwei Espressi. Nun bin ich vollends munter.

Mächtige Kastanien stehen an der Straße. Sie tragen braune, schrumpelige Blätter, Folge einer Baumkrankheit, an der in diesem Jahr auch die Kastanien in Deutschland leiden. Hinter Rolewice (Johanneswunsch) führt die Chaussee durch ein schier endloses Waldgebiet. Natur pur, wohin das Auge schaut. Ich würde gern die Straße verlassen und durch den Wald laufen, um die Ruhe zu genießen. Aber der kürzeste Weg zu meinem Tagesziel Czlopa (Schloppe), führt nun einmal entlang der Hauptstraße. Ich will vorankommen.

Rastplatz hinter Rolewice (Johanneswunsch): Die Chaussee führt durch ein schier endloses Waldgebiet. Natur pur, wohin das Auge schaut. Wie erholsam wäre es, die Straße zu verlassen und durch den Wald zu pirschen

 

 

 

 

Die Autofahrer wirken heute rücksichtvoller. Ich gehe ihnen auf der linken Straßenseite entgegen und versuche Blickkontakt aufzunehmen. Es scheint zu funktionieren. Autos, die auf mich zukommen, habe ich im Visier. Doch es sitzen auch Idioten am Lenkrad. Sie starten ihre Überholmanöver hinter meinem Rücken. Bei einer Attacke schlägt ein Seitenspiegel fast gegen meinen Arm.

Meine heftigsten Widersacher sind die Lkws. Besonders gefährlich wird es, wenn sich die 40-Tonner auf meiner Höhe begegnen. Schnell lerne ich, ihnen auszuweichen. Bevor die Brummis an mir vorbeirauschen, springe ich vom Seitenstreifen ins Gebüsch. Motorenlärm und Fahrgeräusche dringen bis ins Mark und bringen mein Innerstes zum Vibrieren. Die körperlichen und psychischen Belastungen sind immens.

Meine Meinung über die polnischen Autofahrer muss ich revidieren: Pkws mit deutschem Kennzeichen rasen ebenso. Doch eigentlich habe ich keinen Grund, mich zu empören. Schließlich laufe ich entlang der Hauptverkehrsader Berlin-Danzig. Für Fußgänger ist kein Weg vorgesehen. Weit und breit bin ich der einzige Tippelbruder. Natürlich kann ich von den Fahrern nicht erwarten, dass sie im Schneckentempo an mir vorrüber schleichen und mir dabei noch aufmunternd zuwinken.

Im Abstand von 100 Metern begrenzen schwarzweiß gestreifte Plastikpfähle die Fernstraße 22. Anhand der Pfähle erechne ich, wie schnell ich vorankomme.  Für zehn Pfeiler benötige ich zwölf Minuten. Unter günstigen Bedingungen, wenn ich nicht zu häufig ins Gebüsch hechten muss, lege ich etwa vier bis fünf Kilometer pro Stunde zurück. Mit einem Gewicht von etwa 14 Kilo auf dem Buckel eigentlich kein schlechter Wert, denke ich. 

Der Ort Stare Osieczno am Ende des Drawienski Nationalparks hieß einst Hochzeit: Hat der Name etwas mit der stattlichen Backsteinkirche auf der Anhöhe zu tun?

 

 

 

 

Gegen halb elf erreiche ich den kleinen Ort Stare Osieczno (Hochzeit) am südlichen Ende des Drawienski Nationalparks. Das malerische Flüsschen Drawa (Drage), ein Nebenfluss der Notec (Netze), bildet hier die Grenze zwischen den Woiwodschaften Lubuskie (Lebus) und Wielkopolskie (Großpolen).  Linkerhand lädt ein Campingplatz zum Verweilen. Gegenüber thront auf einer kleinen Anhöhe eine sechseckige Backsteinkirche. Ich mühe mich die Treppen zum trutzigen Gotteshaus hinauf. Leider ist das Gebäude verschlossen. Hat der frühere deutsche Ortsname "Hochzeit" etwas mit der außergewöhnlichen Kirche zu tun? 

Ein alter Traktor, ein fast antikes Zugfahrzeug mit Hänger, knattert an mir vorüber. Der raubauzige Kerl auf dem Fahrersitz ruft mir etwas zu und deutet hinter sich. Eine Aufforderung, einzusteigen? Ich winke ab, schließlich will ich mir die Strecke erwandern. Ein Radfahrer ruft mir im Vorbeifahren etwas zu. Leider verstehe ich ihn nicht. Sicher will er mir mir Mut machen: "Nur fröhlich voran, Wanderer!"

Um halb zwölf bin ich in Przesieki, ehemals Wiesenthal. Ich mache Rast im beschaulichen Garten eines Hotels mit Campingplatz und Schwimmbad. Eine Tomatensuppe bestätigt meine Auffassung: In Polen gibt es die beste Suppe!  Sie bringt mir neue Energie. 20 Minuten später bin ich wieder an der Straße. Am Fahrbahnrand lese ich: zwölf Kilometer bis Czlopa (Schloppe). 

Zwölf Kilometer bis Czlopa (Schloppe): Eintönig führt die Straße schnurgerade aus. Gedanken purzeln wie Dominosteine

 

 

 

 

Die Straße führt eintönig geradeaus. Wie Dominosteine purzeln mir die Gedanken durch den Kopf. Ein Hund läuft aus dem Gebüsch ohne auf die Autos zu achten schnurstracks über die Fahrbahn. Der riskante Vorgang erinnert mich plötzlich an eine kuriose Geschichte: Mein Schulfreund Peter und ich waren Ende der 60er Jahre per Anhalter unterwegs. Unser Ziel war Kärnten in Österreich. Nach flottem Start saßen wir bald an einem Autobahnrastplatz bei Hannover fest. Nach fast zwei Stunden Wartezeit erbarmte sich unser ein älteres Ehepaar mit einem schicken Mercedes.

"Dann wollen wir mal", sagte der Mann, nachdem er uns kurz gemustert hatte. "Setzt euch auf die Rückbank und verhaltet euch ruhig", befahl er. Dann formte er seine Hände zu einem Trichter und rief ins Unterholz: "Lord, komm!" Kurz darauf fegte ein schwarzzottiger Riesenschnauzer aus dem Gebüsch. Die Zunge hing heraus, Speichel tropfte aus seinem Maul. Ungerührt kletterte er über meine Oberschenkel auf den Rücksitz und ließ sich zwischen uns nieder, tat so, als ob er allein im Auto säße.

Unser Fahrer startete seine Limousine, gab Gas und fädelte sich auf der Fahrbahn ein. Lord, gestützt auf seine Vorderpfoten, schaute stolz erhobenen Hauptes nach vorn.  Sein Augenmerk schien dem fließenden Verkehr zu gelten. Uns würdigte er keines Blickes. Stocksteif vor Furcht saßen wir neben dem gewaltigen Tier, wagten kaum, uns anzuschauen, geschweige uns zu bewegen.

Bald verlor Lord sein Interesse am Verkehrsgeschehen. Behäbig wandte er seinen Kopf mal mir, mal Freund Peter zu. Wir schienen ihm zu gefallen. Mit einer Behändigkeit, die ich dem großen Hund nicht zugetraut hatte, legte er seine mächtigen Pfoten auf Peters Schulter. Mit Hingabe schickte er sich an, ihm mit seiner Zunge übers Gesicht zu schlecken. Peter versank noch tiefer in seinem Autositz, traute sich kaum, zu wehren.

Endlich gab es eine Reaktion von vorn. "Pfui, Lord", rief Herrchen, der die tierischen Liebesbeweise im Rückspiegel beobachtet hatte. Lord gehorchte sofort und ließ von Peter ab. Doch sein Interesse an den jungen Mitfahrern war ungebrochen. War da nicht noch einer? Jetzt wandte er sich mir zu. Behände setzte er mir seine Pfoten auf meine Schulter und begann, mir seine Zuneigung zu zeigen. Auch mich rettete ein Ordnungsruf Herrchens, der uns dann wohlbehalten bei Kassel wieder auslud.

Imbiss am Ortseingang  von Czlopa (Schloppe): Ich bin der einzige Gast, bestelle ein Eis und stürze eine Coca-Cola hinunter. Der Zucker verleiht mir neue Energie. Ungesund aber wirksam.

 

 

 

 

Über Szczuczarz (Zützer) und Dzwonowo (Schönow) erreiche ich gegen 15.30 Uhr Czlopa (Schloppe). Ich habe nicht aufgepasst, ich bin unterzuckert und komme nur noch mühsam voran. Schnell krame ich meine Notration aus dem Rucksack, einen Müsliriegel, den ich mit Heißhunger vertilge. Panisch wechsele ich die Straßenseite in einen kleinen Imbiss. Ich bin der einzige Gast, bestelle ein Eis und stürze eine Coca-Cola hinunter. Der Zucker verleiht mir neue Energie. Ungesund aber wirksam.

Im Hotel Gospoda, gelegen an der Fernstraße 22, stehen zwei Frauen hinter dem Tresen. Alle Tische im Saal sind eingedeckt. Die beiden Frauen, wohl Mutter und Tochter, sind im Stress. Sie scheinen eine große Gesellschaft zu erwarten. Jeden Moment können die Gäste kommen. Der verschwitzte Wandersmann ist in dieser Situation lästig. Sie machen mir unmissverständlich klar: Ich soll mich woanders nach einer Bleibe umsehen.

In Czlopa ist niemand auf der Straße anzutreffen. Der Abend naht. Trotzdem schieße ich noch ein paar Fotos von Kirche, Rathaus und dem mächtigen Schulbau mit neuen, knallroten Ziegeldach.

In Czlopa sind keine Menschen auf der Straße: Unter dem neuen leuchtenden Dach des Schulbaus waren einst drei Schulen vereinigt: die evangelische Volksschule, die katholische Volksschule und die Mittelschule.

 

 

 

 

Czlopa, früher Schloppe, blickt auf eine unruhige Geschichte zurück. Die erste Siedlung entstand an einer Stelle, an der sich schon Anfang des 11. Jahrhunderts ein slawischer Häuptlingssitz befand. Nach den Polen kamen die Brandenburger, Markgraf Otto der Faule überließ den Flecken wieder den Polen. 1555 kam die Reformation, 1618 mussten die Protestanten die Kirche wieder rausrücken. Mit der ersten Teilung Polens wurde Schloppe preußisch. Hochwohlgeboren Friedrich Wilhelm II. überließ den Ort seiner Mätresse Gräfin Lichtenau. Schloppe gehörte zur Grenzmark Posen-Westpreußen und kam nach der Auflösung 1938 zu Pommern.

Regionale Bedeutung erlangte die Stadt durch ihre Pferdemärkte. Nach der Einnahme setzte die Rote Armee im Februar 1945 die Altstadt in Brand. Nur wenige Gebäude aus der Vorkriegszeit blieben erhalten, etwa das Rathaus oder der 1932 begonnene Schulbau mit dem leuchtend roten Dach, unter dem einst drei Schulen vereinigt waren: die evangelische Volksschule, die katholische Volksschule und die Mittelschule.

Im Erdgeschoß schaut eine Frau aus dem Fenster. Sie stützt die verschränkten Arme auf den Sims und beobachtet mich beim Fotografieren. "Hotel? Pokoje?", rufe ich ihr fragend zu. Sie hat einen Tipp bereit: Hotel "Sosenka", nur zwei Kilometer entfernt. Was bleibt mir übrig: Ich stiefele wieder los - hinaus aus dem Ort, durch ein Waldstück.

Als ich aus dem Wald heraustrete, werde ich belohnt. Vor mir breitet sich ein malerischer See aus. Vom goldgelben Sandstrand führt ein hölzerner Badesteg ins Wasser. Am Ufer reihen sich flache Ferienbungalows. Vor einem größerem Gebäude drängen sich festlich gekleidet Menschen. Sie halten Wein- und Biergläser in ihren Händen und lassen lautstark ein Brautpaar hochleben. Musik schallt herüber.

Ein kleiner rundlicher Mann mit offener Weste und speckigem Cordhut hat mich entdeckt und kommt auf mich zugelaufen. Er stellt sich mir als Chef der Freizeit-Anlage vor. Jetzt wird es ernst. Kann ich hier übernachten oder schickt er mich weg? Dann die Erlösung. Ein Bungalow mit Seeblick ist frei. Ich jubiliere innerlich.

Freizeitzentrum Sosenka: Flache Ferienbungalows ducken sich am Seeufer. Vom goldgelben Sandstrand führt ein hölzerner Badesteg mit Kinderrutsche und Sprungbrett ins Wasser.

 

 

 

 

Auf dem Tisch meines Zimmers finde ich ein Blatt mit einem Text in deutscher Sprache:

„Das Freizeitzentrum Sosenka ist im malerischen Postglazialgelände gelegen. Ruhige Lage aber verkehrsgünstig, direkt am Mühlsee in Czlopa. Die reine Luft und Ruhe locken Touristen hierher. Die abwechslungsreiche Landschaft mit Seen und Hügeln, Wäldern und Tälern bietet beste Voraussetzungen für einen guten und aktiven Urlaub. Unser Freizeitzentrum bietet unseren lieben Gästen Angel- und Wassersport, Spaziergänge, Pilze suchen, Kanuwanderfahrt, abendliches, gemütliches Beisammensein beim Grillen, Begrüßungsabende mit Musik und Tanz. Unser Freizeitzentrum ist das Jahr über offen stehend. Zur Verfügung stehen Räume für Konferenzen, Tagungen, Hochzeitspartys. Jährlich veranstalten wir eine Sylvesterfeier.“

Sosenka ist ein kleines Naturparadies. Nach dem Duschbad setze mich auf die Terrasse, blicke auf den See und führe mein Tagebuch. Ein lauer Abendwind streicht über das Wasser. Nebenan säubert ein Ehepaar fachgerecht einen gewaltigen Berg von Pilzen und verteilt die prächtigen Exemplare auf einem Metallrost. Sie grüßen freundlich herüber. Ich bedaure wieder einmal, dass ich der polnischen Sprache nicht mächtig bin.

Die Hochzeitsgesellschaft kommt langsam in Stimmung. Alkohol- und Lärmpegel steigen. Junge Leute laufen, ohne Notiz von mir zu nehmen, an meiner Terrasse vorbei. Ein Bursche redet gestikulierend auf ein Mädel ein. Sie lacht herzlich.

Gegen 23 Uhr lösche ich das Licht, schließe mich in meinem Zimmer ein und achte darauf, dass mir keine Mücken folgen. Ich klappe die Schlafcouch auf und schalte das Radio ein. 

Im Rundfunk erklingt Edvards Griegs "Morgendämmerung" aus Peer Gynt. Ich liebe die Melodie. Ein erhabenes Gefühl steigt in mir hoch, schnürt mir fast die Kehle zu: allein im Wald, am See, in der Nacht. Ein Sprecher der Deutschen Welle verliest den Seewetterbericht: "Deutsche Bucht: Südliche Winde 6 bis 7, Westteil anfangs 7 bis 8, abnehmend 5 bis 6, West drehend, strichweise diesig, später Schauerböen, See 2 bis 3 Meter."

Freizeitzentrum Sosenka in Czlopa: Ich setze mich auf die Terrasse, blicke auf den See und ergänze mein Tagebuch. Ein lauer Abendwind streicht über das Wasser.

 

 

 

 

Ich träume, ich räkele mich auf einem Sofa. Über einem runden Wohnzimmertisch liegt eine Häkeldecke mit langen Fransen.  Sonne dringt durch die Gardinen und spiegelt sich im Schellack lackierten Telefunken-Radio. Der Lautsprecher oberhalb der Senderskala ist mit beigen Stoff bezogen. Auf dem Skalenglas stehen ferne Städte wie Hilversum, London und Moskau. Das magische Auge blinzelt freundlich herüber. Die Nachrichten berichten über Adenauer, Chruschtschow und die Ostzone. Dann sagt der Mann im Radio: „Und jetzt hören sie die Meldungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes: 'Gesucht wird….' " Plötzlich ruft meine Mutter: „Junge, hast Du Deine Schularbeiten gemacht?“ Ich schrecke aus dem Schlaf.

An meinem Bungalow zieht laut singend die polnische Hochzeitsgesellschaft vorbei. Am Wald, am See, in die Nacht.

 

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Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:


Carsten Voigt

Bildarchiv Ostsicht

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