Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 23. Tag

Donnerstag, 14. September 2006  - An der Ostsee

Auszeit in Danzig: Mit dem Zug von Dirschau (Tczew) nach Danzig-Zabianka

Junge Burschen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren sitzen an langen Tischen im Speisesaal und schwatzen. Wie in deutschen Jugendherbergen reicht eine Küchenhilfe im weißen Kittel das Frühstück durch eine Klappe. In der Durchreiche daneben stapelt sich benutztes Geschirr.

Ein junger Mann stibitzt sich eine Semmel, eine mehr, als ihm zusteht. Lauthals wettert eine Küchenhilfe durch die Klappe: „Franek, Franek!“ Der Junge fühlt sich ertappt, bekommt einen roten Kopf und legt verlegen das Brötchen zurück. Die anderen lachen. Zum Frühstück gibt es Wurst, Käse, Marmelade, Tee und Instantkaffee. Auf den Tischen steht heißes Wasser in Thermoskannen bereit.

Nach dem Frühstück gebe ich den Zimmerschlüssel an der Rezeption ab, wuchte den Rucksack auf meine Schultern und zuckel wieder zur Brücke an die Weichsel. Heute Morgen sehe ich das imposante Bauwerk in besonderem Licht. Schnell zücke ich meinen Fotoapparat. Mit lautem Getöse rattert ein Zug der Polnischen Staatsbahn PKP über die Stahlkonstruktion Richtung Malbork (Marienburg). Aus der Ferne grüßt das alte Dirschau, beschienen von der milchigen Morgensonne

Dirschau an der Weichsel in der Morgensonne

Gegen 11 Uhr setze ich mich in den Zug nach Danzig. Ich fühle mich erleichtert, glücklich, dem Lärm der Landstraße für ein paar Tage zu entkommen. Nach einer halben Stunde rollt der Zug in Gdansk Glowny, dem Danziger Hauptbahnhof, ein. Umstandslos finde ich die Stadt-Bahn Richtung Gdansk-Zabianka. Meine Gastgeberin, eine pensionierte polnische Deutschlehrerin, hatte mir gestern am Telefon den Weg erklärt.

Am Bahnhof in Zabianka kaufe ich einen Blumenstrauß und begebe mich auf die Suche nach ihrer Wohnung. Zabianka ist ein Neubauviertel aus den siebziger Jahren mit 34 klotzartigen zehngeschossigen Gebäuden und 4210 Wohnungen. Durch die Trabantenstadt verläuft eine breite Promenade, von der links und rechts uniforme Wege abzweigen.

"Zabianka", der Name des Quartiers, bedeutet Frosch, erzählt mir meine Gastgeberin später, als Reminiszenz an die froschreichen Teiche in der Umgebung. Jahrhundertelang war die Gegend ein Feuchtparadies für „Poggen“, also für Frösche. Vor dem Krieg hieß der Ort, an dem heute schätzungsweise 20.000 Menschen leben, Poggenkrug.

Danzigs Neubauviertel Zabianka

Die Wohnung meiner Gastgeberin liegt im achten Stock. Jolanta begrüsst mich herzlich wie einen alten, lang vermissten Freund. Die Drei-Zimmerwohnung ist gutbürgerlich eingerichtet. In den Bücherregalen des Wohnzimmers entdecke ich hauptsächlich deutschsprachige Literatur. Die Werke des gebürtigen Danzigers Günter Grass überwiegen.

Zum Empfang hat Jolanta Rippchen mit roten Rüben gekocht. Beim Essen erzählt sie mir die Geschichte ihrer Familie, die aus aus der Region um Wilna stammt. 1945 mussten die polnischen Gutsbesitzer ihre Heimat Litauen verlassen. Die Familie verschlug es nach Danzig. Wären sie in die Hände der Bolschewisten gefallen, hätten sie nicht überlebt, vermutet Jolanta. In Danzig verschleppten die Deutschen dann ihren siebzehnjährigen Bruder zur Zwangsarbeit nach Frankfurt am Main. Heute lehrt er als Professor an der Danziger Technischen Universität.

Spät, erst im Alter von 47 Jahren, begann Jolanta deutsch zu lernen. Früher arbeitete die selbstbewusste Frau in der Verwaltung der Danziger Leninwerft, die als Keimzelle der demokratischen Bewegung Polens gilt. Hier lernte sie auch den Elektriker Lech Walesa kennen, der später die Gewerkschaft Solidarnosc führte und 1990 zum Polnischen Präsidenten gewählt wurde. Mit dem Umbruch verlor sie wie viele Polen ihre Arbeitsstelle.

Am Ostseestrand

Nach dem Essen gehen wir an die Ostsee. Es sind nur 15 Minuten zum Strand. Ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus. Barfuß im Sand: Für meine geschundenen Füße ist das Ostseewasser ein Heilbad. Das wunderbare Klima lindert auch alle meine anderen Verhärtungen und Wehwehchen.

Seebrücke von Zoppot

Farbig lackierte Fischerbote liegen vor der Flut geschützt am Strand. Die Sonne geht langsam unter. Eine sanfte Brise über das Meer ans Ufer. Bald kommen wir an die Zoppoter Mole. Die längste hölzerne Seebrücke Europas ragt über 500 Meter in die Ostsee hinein. Weißblaue Banner flattern über allen, die über die Mole schlendern.

Heute leben in Zoppot etwa 40.000 Einwohner. Jedes Jahr kommen über zwei Millionen Besucher in das Ostseebad, um sich zu erholen. Auf dem Kurplatz, dem Festlandteil der Seebrücke, befinden sich ein historischer Brunnen, ein Leuchtturm mit Aussichtsplattform, eine Konzertmuschel, gastronomische Einrichtungen und kleine Grünflächen.

Geburtshaus von Klaus Kinski in Zoppot

Jolanta führt uns über die berühmteste Straße Zoppots, die ul. Bohaterow Monte Cassino, Straße der Helden von Monte Cassino. Die ehemalige Seestraße ist heute eine elegante Flaniermeile mit exklusiven Modegeschäften und zahlreichen Cafés. Unweit davon, in der Tadeusza Kosciuszki 10, erinnert ein Relief mit dem Zitat "Ohne Freiheit kann ich nicht leben" an den prominentesten Sohn Zoppots, den Schauspieler Klaus Kinski. Der Darsteller psychopathischer und getriebener Charaktere wurde vor 80 Jahren in dem Gebäude als Klaus Günter Karl Nakszynski geboren.

Gedenktafel: "In diesem Haus wurde am 18.10.1926 Klaus Günter Karl Nakszynski - ein Filmschauspieler von Weltrang, der unter dem Namen Klaus Kinski auftrat - geboren."

Unser Rückweg führt uns durch den Olivaer Park. In dem berühmten Olivaer Dom wird gerade eine Messe abgehalten. Ich bin erschöpft, als wir zurück in die Wohnung im achten Stock kommen. Die Sonne ist inzwischen hinter Zabiankas gewaltigen Wohnblocks untergegangen.

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Anmerkungen bitte an:


Carsten Voigt

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