Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 3. Tag

Sonntag, den 4. Juni 2006 - Tausendfacher Tod und Verwüstung

Von Müncheberg nach Küstrin

Kirchgänger begegnen uns am Morgen auf ihrem Weg zum Gottesdienst. Sie streben in die Müncheberger Marienkirche. Trutzig wacht das Gotteshaus auf einer kleinen Anhöhe über die Stadt. Die erheblichen Schäden durch die Kämpfe zum Ende des Zweiten Weltkrieges sind an dem frühgotischen Granitquaderbau aus dem 13. Jahrhundert nicht mehr auszumachen.

Küstriner Torturm in Müncheberg

 

 

 

 

 

Wir verlassen Müncheberg über die Straße am Küstriner Torturm. Der massive Turm aus unregelmäßig behauenen Feldsteinen erreicht eine Mauerstärke von fast drei Metern und stammt aus dem 15. Jahrhundert. An seiner Südseite ist eine massive Eichenholzkeule befestigt. Darunter lese ich auf einer Tafel: „Wer seinen Kindern gibt das Brod und leidet selber Noth den soll man schlagen mit dieser Keule todt.“ Na, das sind ja Sitten!

Der Weg zum Dorf Trebnitz führt durch Felder und Knicks. Am Ortseingang demonstrieren schmucke Einfamilienhäuschen mit gepflegten Vorgärten und kecken Gartenzwergen bürgerlichen Wohlstand. Ein kurzer Abstecher führt uns zum Schloss Trebnitz, einem der imposantesten Bauten in Märkisch-Oderland. Das barocke Aussehen erhielt das Anwesen erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Heute dient das Gebäude als Begegnungszentrum für die internationale Jugendarbeit mit Schwerpunkt Osteuropa.

Gartenzwergidylle in Trebnitz

 

 

 

 

 

Weiter führt uns der Fußmarsch durch Dörfer mit so wunderbaren Namen wie „Worin" und „Görlsdorf". Der sandige Waldweg vor Seelow ist beschwerlich. Bewegungshungrige Dauerläufer traben leichtfüßig an uns vorbei. Na gut, denke ich, die tragen keinen Tornister mit Frühstücksbrettern und Metallbesteck auf dem Rücken.

Wieder queren wir die Bundesstraße 1. Aus der Ferne grüßt der weiße Turm der Seelower Stadtkirche. Die kleine märkisch-oderländische Kreisstadt erlangte durch die Kämpfe bei den Seelower Höhen traurige Berühmtheit. Es war die letzte große Verteidigungsschlacht vor Berlin. Der Ortskern wurde dabei weitgehend zerstört. Den nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel errichteten Kirchturm hatten zuvor deutsche Truppen gesprengt, um der anrückenden Roten Armee kein weithin sichtbares Ziel für ihre Artillerie zu bieten. Nach der Wende ließ der in Seelow geborene Werner Otto, Gründer des gleichnamigen Hamburger Versandkonzerns, den Turm neu errichten. Die Kirche ist heute baugeschichtlich die einzige Sehenswürdigkeit Seelows.

Ortseingang von Seelow

 

 

 

 

 

Als wir in Seelow eintreffen, sind Kirche und Hotel am Markt geschlossen. Leichtfertig hatten wir den "Brandenburger Hof" am Stadteingang rechts liegen lassen, in der Hoffnung, im Ort eine Unterkunft zu finden. Wir entschließen uns, weiter entlang der Küstriner Straße stadtauswärts Richtung Grenze zu laufen.

Kurz hinter Seelow erblicken wir die Gedenkstätte „Seelower Höhen“. Wie in Müncheberg ist auch hier ein mächtiger Sowjetsoldat auf einer Anhöhe postiert. Die Monumentalplastik schuf der sowjetische Bildhauer Lew Kerbel. Behängt mit einem Karabiner schaut der Kämpfer mit heroischer Geste auf das Schlachtfeld des Oderbruchs. Eine Taube sitzt despektierlich auf dem Helm der Skulptur. Eine Friedenstaube? Sie weicht auch nicht von ihrem Landeplatz, als ich versuche, sie zu verscheuchen, um ein Foto zu machen.

Monumentalplastik von Lew Kerbel der Gedenkstätte „Seelower Höhen"

 

 

 

 

 

 

 

Am Fuß des Monuments liegen Gräber russischer Soldaten. Unter dem Sowjetstern lese ich in kyrillischer Schrift die Namen Litwin, Nesterow und Stepanzew, darunter die Jahreszahl 1945. In einer Senke stehen ein T-34-Panzer und der Geschoßwerfer BM 13. Die Russen nannten die Kriegsmaschine liebevoll Katjuscha, bei den Wehrmachts-Soldaten war sie gefürchtet als Stalinorgel. Waffen, die tausendfachen Tod brachten und das Oderland verwüsteten. Die Panzer, Geschütze und Granatwerfer sind Exponate des Schlachten-Museums.

Gefürchtete Waffe im Zweiten Weltkrieg: Stalinorgel bei der Gedenkstätte „Seelower Höhen"

 

 

 

 

 

Wie ein gewaltiger Riegel schiebt sich der Hang zwischen Seelow und den Oderbruch. So müssen es am 16. April 1945 auch die Soldaten der Roten Armee empfunden haben, als sie, unterstützt von tausenden Geschützen, zur Großoffensive „Berliner Operation“ ansetzten. Noch einmal stellten sich hier deutsche Soldaten einem übermächtigen Gegner entgegen. Sie verzögerten den Vormarsch, letztendlich war der Widerstand zwecklos. Drei Wochen vor Kriegsende verloren weitere 50.000 Menschen ihr Leben. Wahnsinn, Irrsinn! Wer Seelow besucht, kommt wohl vorrangig wegen der bedrückenden militärhistorischen Vergangenheit des Ortes...

 

Gräber russischer Soldaten an der Gedenkstätte „Seelower Höhen"

 

 

 

 

Es ist spät nachmittags. Wir benötigen eine Unterkunft. Doch nach unserer Wanderkarte befinden sich auf dem Weg zur Grenze keine Hotels und Pensionen, die wir vor Einbruch der Dunkelheit erreichen könnten. Wir sind genötigt, am Bahnhof von Seelow in den Regionalzug zu steigen. Bevor wir eine Fahrkarte gelöst haben, müssen wir in Werbig schon in die Bahn nach Küstrin umsteigen.

In Küstrin-Kietz, der letzen Station vor der Grenze, steigen wir aus. Ich möchte zu Fuß über die Grenze gehen. Der Weg führt nun an den Bahngleisen entlang. Rechterhand ducken sich flache, grau verputzte Wohnhäuser. Nur wenige Passanten sind zu sehen. Die ehemalige Reichstraße 1 bildet hier die Verbindung zwischen dem deutschen Stadtteil Küstrin-Kietz und der östlich der Warthe gelegenen ehemaligen Neustadt Küstrins, dem polnischen Kostrzyn nad Odra.

Es beginnt zu regnen. Das Licht zum Fotografieren schwindet. Bei Kietz verzweigt sich die Oder und bildet eine kleine Insel. Auf den letzten Metern der schnurgeraden Bundesstraße 1 marschieren wir an einer Front verlassener Kasernengebäude entlang. Wie tote Augen blicken dunklen Fensterlöcher auf uns nieder. Ich höre Befehle und zackiges Schlagen von Stiefelabsätzen auf blankem Kachelfußboden: "Kompanie aufstehn!" In die Artilleriekaserne der Deutschen Wehrmacht zog nach 1945 die Rote Armee ein. Die Oderinsel war bis zum Jahr 1991 militärisches Sperrgebiet.

Von der „Neuen Oderbrücke“ blicken wir auf die steil zum Ufer abfallenden mächtigen Mauern der Festung Küstrin. Über dem Bollwerk reckt sich ein gewaltiger Obelisk in den trüben Abendhimmel. Auf seiner Spitze prangt der rote Sowjetstern. Vor dem Monument richtet ein Geschütz sein Rohr drohend gen Westen. Festung und Altstadt Küstrins liegen auf einer Halbinsel am Zusammenfluss von Oder und Warthe. Die Altstadt mit ihrer 700-jährigen Geschichte wurde 1945 infolge mehrwöchigen Beschusses durch sowjetische Geschütze dem Erdboden gleichgemacht.

 

Neue Oderbrücke mit den mächtigen Mauern der Festung Küstrin

 

 

 

 

Kurz nach Überqueren der Oder gelangen wir an die Grenze. Die Kontrollprozedur ist unkompliziert. Deutsche und polnische Grenzbeamte sitzen kollegial nebeneinander und lassen sich kurz die Pässe zeigen. Wir genießen die Privilegien als EU-Bürger. Ein Hotelneubau, eine Wechselstube, zwei Tankstellen, Souvenir-Geschäfte und Filialen polnischer Fensterproduzenten bieten ihre Dienste und Produkte feil. Es dämmert, doch in das ungastlich wirkende Hotel am Grenzübergang wollen wir uns nicht einmieten. Wir gehen weiter

Über die Warthebrücke gelangen wir nach Kostrzyn nad Odra. Am Flussufer drängen sich vor einem Freilufttheater tausende Menschen. Trotz des miserablen Wetters scheinen alle Küstriner auf den Beinen zu sein. Die Künstler auf der Bühne, so können wir von weitem erkennen, bieten eine Mischung aus Zirkus und Kabarett. Bedauerlich, dass wir kein Polnisch verstehen.

Hotel "Dom Turysty" in Kostrzyn nad Odra / Küstrin

 

 

 

 

 

Im Stadtzentrum erkundigen wir uns bei Passanten nach einer Unterkunft. Zwei Straßen weiter in der Piastowska liege das Hotel „Dom Turysty“, erklärt uns ein freundlicher junger Mann. Das Gebäude aus dunkelrotem Backstein ist nicht zu übersehen. Die Hotelzimmer werden gerade renoviert, sagt die Dame an der Rezeption. Instandgesetzte Räume kosten 35 Euro, andere 10 Euro, alles ohne Frühstück. Wir sind erschöpft und wählen den Komfort. Nach 25 Kilometern zu Fuß erholen wir uns in einer frisch gestrichenen Zwei-Zimmer-Suite mit fein gekacheltem Bad. In Polen lässt sich’s gut leben!

 

 2. Tag ←  → 4. Tag

Home