Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 19. Tag

Sonntag, 10. September 2006  - Pilzsammler auf der Pirsch

Von Chojnice (Konitz) nach Czersk (Heiderode), 20 Kilometer

Ich stehe um 7.30 Uhr auf. Abmarsch ist um neun Uhr. Ich folge weiter der Fernstraße 22, der früheren Reichstraße 1. Es ist bewölkt. Die Temperatur liegt bei etwa 15 Grad, angenehm zum Wandern.

Heute bin ich zwei Wochen "on the road" und habe etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Trotz großer Strapazen fühle ich mich psychisch und physisch im Gleichgewicht. Inzwischen gehe ich meine Tagesetappen gelassener an. Die erste Wanderwoche war von Unsicherheit geprägt. Ich fürchtete, mein Pensum nicht zu schaffen. Die Strecke türmte sich wie ein Gebirgsmassiv vor mir auf. Jetzt bin ich zuversichtlich. Ich werde es schaffen - sofern ich gesund bleibe.

Wandern ist ein einsames Vergnügen. Trotz Begegnungen und Gesprächen bin ich auf mich allein gestellt. Allein mit der Entscheidung über die Routenführung, der Sorge um Übernachtungsquartiere, Proviant und frische Wäsche.

Revitalisierung der Stadt Chojnice (Konitz)

Auf meinem Weg durch Stadt und Land sehe ich immer wieder Plakate, die auf Großbauprojekte hinweisen. Häufig steht darauf: „Gefördert mit EU-Mitteln“. Mal geht es um den Ausbau der Infrastruktur, mal um die Erneuerung ganzer Stadtteile. In Chojnice, lese ich, finanziert die Europäische Union die "Revitaliserung der Stadt" mit 11,8 Millionen Zloty, der Polnische Staat gibt 1,6 Millionen Zloty hinzu, die Kommune beteiligt sich mit drei Millionen Zloty. Das junge EU-Mitglied scheint von seinem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft zu profitieren. Zumindest suggerieren die Hinweistafeln: In Polen geht es wirtschaftlich voran.

Fernstraße 22, ehemalige Reichstraße 1 bei Jeziorki

Kurz nach Chojnice gehe ich wieder auf einem durch eine weiße Linie getrennten Seitenstreifen. Er ist etwa einen Meter breit und schützt mich halbwegs vor dem Autoverkehr.Der Straßenbelag ist aus Beton. Die Asphaltnähte sind aufgebrochen. Das rhythmische Stakkato der Autoreifen höre ich bereits aus der Ferne. „Tak, tak, tak“. Es steigert sich, bis die Fahrzeuge mich erreicht haben. Dann ebbt es wieder ab.

Die Straße führt jetzt durch eine bewaldete Gegend, aber trotzdem ist es nicht einfach, einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen. Als ich zum Austreten durchs Unterholz stapfe und nach einem ungestörten Plätzchen suche, raschelt es in meiner Nähe. Blitzschnell drehe ich mich um. Nein, mir ist niemand gefolgt. Hinter mir steht nur ein harmloser Pilzsammler. Er ist auf der Pirsch. Merke: Zur Pilzsaison ist man in Polen niemals allein!

Im Wald ist man niemals allein

Mein Rucksack ist inzwischen schwerer als zu Beginn der Wanderung. Neben zwei Wasserflaschen schleppe ich meine verschwitzte Wäsche und Informationsmaterial über die Orte, die ich hinter mir gelassen habe. Obendrauf mein Gastgeschenk, der Stadtbecher, den mir Herr Bondarenko von der Stadtpromotion in Czluchow schenkte.

Trotzdem komme ich nach zwei Wochen Wanderschaft mit dem Gewicht meines Rucksacks gut zurecht. Die Rückenlast ist weitgehend Gewohnheitssache. Vielleicht habe ich auch an Muskelkraft zugelegt und mir Bauchspeck abgelaufen.

Die Kirche von Rytel in Pommern

Gegen 14.30 Uhr gönne ich mir in Gutowiec (Guttowitz) eine kleine Pause. Ich stärke mich in einem rustikalen Gasthaus mit einer deftigen Erbsensuppe und einem Becher Kaffee. Das Gebäude erinnert mich an Westernfilm-Kulissen, an verruchte Saloons irgendwo in der staubigen Wüste. Der Wind fegt hinein, Schwingtüren schlagen auf und zu, und der Wirt nuschelt: „Was soll's denn sein, Fremder?“ Überall Trägheit und Behäbigkeit eben eine Verlassene-Dorf-Atmosphäre.

Karczma, das Gasthaus in Gutowiec, ehemals Guttowitz

Der Himmel hat sich aufgelockert, endlich scheint die Sonne, aber in der Ferne drohen Gewitterwolken.In den Vorgärten kläffen Hunde. Sie wollen zeigen, dass sie wachsam sind. Der Lärm der Lkws stört die Köter nicht. Wenn die Gefährte vorbeidonnern, dösen sie weiter vor ihren Hundehütten. Sobald aber ein Fremder am Gartenzaun vorbeischleicht, fangen sie wild an zu bellen und Nachbars Hund zeigt kurz darauf, dass er noch besser aufpasst. Auf manchen Grundstücken streunen halbstarke Hundegangs.

Natürlich bin ich ein Exot. Ich scheine der einzige Wanderer in Großpolen, zumindest der einzige Verrückte zu sein, der sich per pedes am Rande der Hauptstraßen des Landes entlang quält. Selten begegne ich Radfahrern. Die, die ich sehe, sind keine grell bedressten Freizeitradler, die ihren edlen Drahtesel nur am Wochenende vom Dachboden holen, um eine Tour ins Grüne zu wagen. Hier dient das Zweirad noch als Vehikel, um von Dorf zu Dorf zu gelangen. Dabei scheint mir das Radfahren an den Hauptverkehrsstraßen gefährlicher zu sein, als neben ihnen zu laufen, so wie ich es praktiziere. Es ist risikoloser, einem Auto durch einen Hechtsprung in den Seitengraben zu entkommen, als mit dem Rad in den Graben zu stürzen.

Erfreut bin ich über meinen Eindruck, in Polen nicht übers Ohr gehauen zu werden. Bisher wurde ich nicht genötigt, für Essen und Übernachtung überhöhte Preise zahlen zu müssen. Womöglich vermittele ich als Wanderer aber auch den Eindruck, als gäbe es bei mir nicht viel zu holen. Die Menschen denken wohl: Der Kerl so arm, deswegen muss er zu Fuß laufen.

Mirabellenbaum bei Czersk (Heiderode)

Vor Czersk lege ich am Straßenrand eine kleine Erntepause ein. Leuchtend-gelbe Früchte eines Mirabellenbaums lassen mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. So ein prächtiges Exemplar habe ich noch nicht gesehen. Erfreulich ist: Die Früchte schmecken so lecker und süß, wie sie ausschauen.

Gegen halb fünf erreiche ich Czersk, die Stadt, die für drei Jahre, von 1942 bis 1945, den Namen Heiderode trug. Gleich am Ortseingang werde ich mit der Stadtgeschichte konfrontiert. Rechts der Straße liegt ein sowjetischer Soldatenfriedhof. Ein Gedenkstein mit rotem Sowjetstern weist darauf hin, dass es in dieser Gegend zum Ende des Zweiten Weltkrieges heftige Kämpfe gegeben haben muss. 1.196 Soldaten der Roten Armee wurden auf dem Friedhof bestattet.

Gedenkstein für die gefallenen Soldaten der Roten Armee in Czersk

Kurz darauf entdecke ich eine weitere Gedenktafel, frisch in die Erde gelegt. Die Tafel ist noch nicht eingewachsen. Sie erinnert an die ehemaligen deutschen Bewohner der Stadt mit der Aufschrift: "Gebiet des ehemaligen evangelischen Friedhofs, Czersk 2006".

Hinweistafel auf den ehemaligen evangelischen Friedhof in Czersk

Am Marktplatz von Czersk finde ich das Hotel "Roal". Ich habe Glück, dass in dem Neubau ein Zimmer frei ist. Wie immer habe ich auch hier nicht vorgebucht. Nach einer kleinen Erholungspause begebe ich mich mit meinem Fotoapparat auf einen Stadtrundgang.

Rathaus von Czersk Fernstraße 22 in Czersk

Als ich zurückkomme, schalte ich den Fernseher ein. Leider ist auch in Czersk, wie in den anderen Orten, in denen ich übernachtet habe, kein Erstes oder Zweites deutsches Programm zu empfangen. Auch hier bekomme ich neben den polnischen nur deutsche Privat-Sender auf die Mattscheibe, die ich zu Hause nie sehe. Fürchterlich, was da für ein Schrott angeboten wird. Die Berieselung beginnt schon früh am Morgen. Nun gut, so ist es eben. Ich hoffe auf den nächsten Tag.

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Carsten Voigt

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