Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 20. Tag

Montag, 11. September 2006  - Vorboten des Herbstes

Von Czersk (Heiderode) nach Bytonia (Bitonia), 25 Kilometer

Die Sonne grüßt gegen sieben Uhr durch das Fenster. Schnell bin ich auf den Beinen. Das Frühstück im Hotel "Roal" in Czersk ist reichhaltig: Polnische Wurst, Käse, Eier, Obst, Brot, Cerealien. Hier lebt's sich wie Gott in Frankreich! Dummer Spruch, ich laufe doch durch Polen. Also Quartier bezahlen, Rucksack auf die Schulter und los geht's.

Bevor ich Czersk verlasse, kaufe ich in einem kleinen Supermarkt etwas Wegzehrung. Das Geschäft ist Teil eines Einkaufszentrums. Es erinnert an die zwar funktionalen, aber eintönigen Ortszentren westdeutscher Kleinstädte. Das verstaubte postsozialistische Grau ist fortrenoviert. Neue Läden reihen sich akkurat angeordnet unter schmalen Giebeln. Der Platz davor ist sauber, aber gesichtslos.

Einkaufzentrum in Czersk (Heiderode)

Im Geschäft nebenan kaufe ich mir eine weitere Speicherkarte für meine Fotokamera. Vor meiner Wanderung bin ich auf Digital-Fotografie umgestiegen. Lange hatte ich mit dem Kauf gezögert. Dann habe ich mir extra für meine Wanderung doch eine neue Kamera zugelegt. Es war die richtige Entscheidung. Ich bin froh, nicht kiloweise belichtete Filme mitschleppen zu müssen. Die Ära der Negativ- und Diapositiv-Filme ist unwiederbringlich vorbei. Auch für mich ist ein neues Foto-Zeitalter angebrochen.

Dem Einkaufzentrum schräg gegenüber steht eine wuchtige Backsteinkirche. Die katholische Maria Magdalena Kirche wurde im Jahre 1913 erbaut, lese ich später. Der Entwurf der dreischiffigen neogotischen Hallenkirche stammt von dem preußischen Baubeamten Oskar Hossfeld. Der gelernte Architekt war einst Bauleiter bei der Errichtung der Siegessäule und der Nationalgalerie in Berlin und Mitbegründer der Fachzeitschrift "Denkmalpflege". Hossfelds Hauptwerke sind evangelische und katholische Stadt- und Landkirchen, vor allem in den östlichen preußischen Provinzen.

Maria Magdalena Kirche in Czersk

Hinter Czersk laufe ich wieder neben der weißen Fahrbahnmarkierung am Rand der Fernstraße 22. Parallel zur Straße nimmt ein doppelstöckiger Regionalzug Tempo auf, als versuche er, die Autos zu überholen. Weite Wiesen und Felder prägen das Land. An den Straßenbäumen verfärben sich erste Blätter. Vorboten des Herbstes.

Schilder am Straßenrand zeigen an, dass noch ein beachtlicher Weg vor mir liegt: Bis Malbork (Marienburg) sind es noch 83 km, nach Elblag (Elbing) 116 km und bis in die russische Exklave Kaliningrad, also in den nördlichen Teil Ostpreußens, 166 km.

Regionalzug bei Czersk

Heute jähren sich die Anschläge vom 11. September. Arabische Selbstmordattentäter kaperten damals vier Passagier-Flugzeuge. Zwei Maschinen lenkten sie in die Türme des World Trade Centers in New York. Bei den Anschlägen starben über 3.000 Menschen. Ermittlungen ergaben, dass die Terroristen jahrelang unerkannt in Hamburg lebten. Ausgerechnet in meiner Heimatstadt.

Nachdem die Vereinigten Staaten den "Krieg gegen den Terrorismus" verkündeten, rief die Nato erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus. Bundeskanzler Gerhard Schröder sicherte den Amerikanern "uneingeschränkte Solidarität Deutschlands" zu. Heute morgen zeigte der Fernsehsender Euronews TV zahlreiche Beiträge zum Jahrestag des Anschlags.

Polen war vor wenigen Jahren noch Mitglied des östlichen Verteidigungsbündnisses Warschauer Pakt. Inzwischen kämpft das Land als enger Verbündeter der USA in Afghanistan und stellt ein bedeutendes Truppenkontingent im Irak. Welch ein fundamentaler Wandel!

Vorboten des Herbstes

Gegen Mittag telefoniere ich mit Thoralf Plath in Kaliningrad. Der deutsche Journalist arbeitet im ehemaligen Königsberg als freier Korrespondent für die Deutsche Presse-Agentur und seit neuestem für den Online-Dienst "Russland aktuell". Es gibt wohl keinen zweiten Deutschen, der die politische und wirtschaftliche Situation in der Oblast so gut beurteilen kann wie er. Ich hatte ihn bei meinen früheren Besuchen in Kaliningrad kennengelernt. Zu Beginn meiner Wanderung las ich einen Artikel in der "Märkischen Oderzeitung" von ihm. Er handelte von dem Plan, das Königsberger Schloß wieder aufzubauen.

Plath lebt seit 1999 mit seiner russischen Frau im früheren Ostseebad Cranz, heute Selenogradsk. Ich frage ihn am Telefon, ob ich mich nach meiner Wanderung für ein paar Tage in seinem Haus an der Ostsee erholen kann. Leider ist kein Zimmer frei. Als ich ihm von meiner Wanderung berichte, weist er mich vorsorglich darauf hin, dass es verboten ist, zu Fuß die polnisch-russische Grenze zu passieren. Ich fange an zu grübeln. Was soll ich tun? Nun ja, vielleicht gibt es die Möglichkeit, per Anhalter durch die Kontrolle zu kommen.

Heute belastet mich das Gehen an der Hauptstraße wieder sehr. Montags sind viele Lkw's auf der Straße. Die Krachmacher zehren an meine Kräften. Immerhin ist das Wetter stabil. Es regnet nicht.

In dem Dörfchen Lag, einst hieß es Long, dann von 1942 bis 1945 Schönhain, gehe ich an einem Gebrauchtwagen-Depot vorbei. Hinter einem hohen Zaun liegen neben einigen Pkw's akribisch aufgereiht Kotflügel, Stoßstangen und Motorhauben. Bei dem Anblick der Autoteile kommt mir unwillkürlich mein geliebter weinroter VW-Bus in den Sinn. Vor einigen Jahren hatte ich ihn an einem Nachmittag auf einem Schulparkplatz in Hamburg-Poppenbüttel abgestellt. Als ich wieder einsteigen wollte, war er verschwunden. Er tauchte nie wieder auf, auch nicht in Teilen.

Kreuz für Unfallopfer

Hinter dem Örtchen Piece (ehem. Ofen) entdecke ich am Straßenrand ein mit Blumen und farbigen Lichtern dekoriertes Holz-Kreuz im Boden. Ich bin betroffen, als ich die Inschrift lese. Vor nicht einmal einem Jahr starben hier die Brüder Sebastian und Robert Stasiak, 26 und 22 Jahre alt durch einen Unfall. Zwei junge Menschen, die ihr Leben noch vor sich hatten. Welch eine Tragödie. Wenige Kilometer weiter erzählt die Straße eine andere Geschichte. Linker Hand steht ein ovaler Feldstein auf einem Betonfundament. Eine Tafel mit polnischer Inschrift erinnert daran, dass sich hier ein deutscher evangelischer Friedhof befand.

Ich bin wohl der einzige Wanderer in Polen. Am Wegesrand treffe ich nur Pilzsammler. Eine junge Frau sitzt im Gras neben der Fahrbahn und bietet in Gläsern und Töpfchen ihre Tages-Ausbeute an. Sie schaut nicht auf, als ich vorbeigehe, sondern häkelt versunken weiter. Erst als ein Auto neben ihr hält, hebt sie ihren Blick.

Pilzverkauf an der Fernstraße 22

Ich bin erschöpft. Mein Rücken schmerzt. Meine Oberschenkel werden taub. Wo finde ich heute Quartier? Weit und breit bietet sich keine Übernachtungsmöglichkeit. Erst gegen 18 Uhr entdecke ich in dem Örtchen Bytonia eine Pension. Die Frau, die die Tür öffnet, weist mir ein Zimmer zu, direkt an der Hauptstraße gelegen. Es ist für flüchtige Durchreisende eingerichtet und kostet 30 Zloty. Die erste Unterkunft, in der die Heizung eingeschaltet ist.

Nach kurze Ruhepause gehe ich vor die Tür. Bytonia besteht aus wenigen, vereinzelt gelegenen Wohnhäusern. Fotomotive sind Mangelware. Bereits gegen 19 Uhr liege ich im Bett.

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19. Tag 21. Tag

Anmerkungen bitte an:


Carsten Voigt

Bildarchiv Ostsicht

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